Buchkritik -- Christopher Clark -- Von Zeit und Macht

Umschlagfoto, Buchkritik, Christopher Clark, Von Zeit und Macht, InKulturA „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Diese Sentenz aus Faust I bringt in Nuce das Spannungsverhältnis zwischen menschlicher Existenz und den jeweiligen historischen Begebenheiten, Machtverhältnissen und politischen Entscheidungen auf den Punkt. Niemand, kein Individuum, keine Gruppe und schon gar kein Herrscher kann sich dem Verhältnis zwischen Realität und politischem Gestaltungswillen, der immer auch in der Zeit stattfindet, entziehen.

Letztere, ob Könige, Kanzler, Despoten oder Demokraten, sind, im Gegensatz zu „normalen Menschen“, besondere Brennpunkte historischer Entwicklungen oder Umbrüche, die sie aufgrund ihrer Machtfülle und ihres Sendungsbewusstseins aus der vermeintlichen historischen Kontinuität herausheben und in ihrer jeweiligen Epoche durch den Spiegel persönlicher Attitüden eine andere politische Richtung, vielleicht sogar einen Bruch mit eingefahrenen Spielregeln erzwingen.

"Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit", so die Kernaussage des australischen Historikers Christopher Clark, die bereits in der Einleitung seines neuen Buches "Von Zeit und Macht" die Intention des Autors, Historisierung als politisch-individuelle Tatsache, herausstellt.

Um seine Thesen von der politischen Flexion der Zeit durch jeweils Mächtige zu untermauern, führt Clark vier Beispiele aus Deutschland an. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-1688), der nach den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges die Herrschaft der Hohenzollern in Brandenburg gegen die selbstbewussten Stände und ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen durchzusetzen verstand, sich also aus den vermeintlichen historischen Zwängen zu befreien versuchte und, den Argumenten des Hofhistorikers Samuel von Pufendorf folgend, neue Wege beschreiten sollte, um auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren.

Sein Urenkel, Friedrich der Große (1712-1786), sah sich dagegen als Endpunkt der Geschichte und als personifizierte Vernunft. Otto von Bismarck (1815-1898), ein Jahrhundert später, definiert sich als "Steuermann im Strom der Zeit", der, die Vergangenheit verklärend, daraus einen Optimismus bezüglich der Zukunft und ihres politischen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritts konstruierte.

Die Nazis und ihr Postulat des "Tausendjährigen Reich" brachen dagegen, so Christopher Clark, komplett mit einer wie auch immer stattfindenden historischen Entwicklung und stellten, quasi vorwegnehmend, den zu erreichenden Endpunkt innerhalb eines als "rassisch definiertes Zeitkontinuum(s)" dar.

Der Leser fragt sich, aus welchen Gründen Christopher Clark ein weiteres Buch zu bereits umfangreich erforschten Epochen und ihren herausragenden Vertretern geschrieben hat. Die Antwort liegt in den vom Autor gezogenen Parallelen zu aktuellen politischen Entwicklungen: "In Großbritannien, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, Ungarn und anderen Ländern, die eine Wiedergeburt populistischer Strömungen erleben, werden neue Vergangenheiten konstruiert, um alte Zukunftsvorstellungen zu verdrängen."

Die Befürworter der Brexit-Kampagne und Donald Trump wollen, so die Meinung des Autors, eine Vergangenheit idealisieren und wiederherstellen, anstatt sich den aktuellen Problemen wie, um nur zwei zu nennen, der Globalisierung und dem Klimawandel zu stellen.

Vielleicht, und das ist bezüglich des Handelns des derzeitigen politischen Mainstreams eine absolut ketzerische Bemerkung, erkennen aber auch immer mehr Verantwortliche das drohende Scheitern der globalen Elitenprojekte, die zunehmende Verarmung ganzer Bevölkerungsgruppen und die sukzessive Aushöhlung demokratischer Spielregeln. Mit Glorifizierung der Vergangenheit hat das weniger zu tun als mit dem Versuch eine aus dem Ruder gelaufene Entwicklung, die nur wenige zu Gewinnern macht, die meisten jedoch zu Verlierern, zu stoppen.

"Wenn Staaten nicht mehr imstande sind, glaubwürdige Zukunftsvisionen hervorzubringen, und der Zivilgesellschaft die nötigen Mittel dafür fehlen, dann sind wir wahrlich in der Gegenwart gefangen", so Clark. Das ist durchaus richtig, aber wer ausschließlich nach vorn schaut, vergisst schnell, wo er herkommt.

Nicht immer einfach zu lesen, ist „Von Zeit und Macht“ ein profundes Geschichtsbuch, bei dem aber der stets erhobene Zeigefinger in Richtung der aktuellen Opposition gegen den „Zeitgeist“ etwas den guten Gesamteindruck schmälert.




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Veröffentlicht am 20. Januar 2019