Buchkritik -- Elisabeth Heidenreich -- Wirbel

Umschlagfoto, Buchkritik, Elisabeth Heidenreich, Wirbel, InKulturA Manche Menschen nennen sie persönliche Schutzräume, andere, vielleicht die mit einem realistischeren Blick, als selbst errichtete Mauern, die vor seelischen Verletzungen bewahren sollen, die jedoch gleichzeitig aber dafür verantwortlich sind, dass es äußeren, vielleicht positiven Einflüssen nicht gelingen kann, diesen Abwehrmechanismus zu durchdringen.

Manchmal allerdings geschieht es, dass diese Wälle durchbrochen werden und Neues auftaucht oder einfach nur lang Vergessenes, Verschüttetes wieder den Weg an die Oberfläche des Bewusstseins findet. Diese Erfahrung machen zwei Menschen, zufällig nebeneinander sitzend, während eines Fluges nach Athen. Beide befinden sich im letzten Drittel des Lebens und sind mit logischer Konsequenz auf jeweils eigene Weise desillusioniert, enttäuscht oder einfach nur abgehärtet gegenüber den Wechselfällen des Daseins.

Josef, ein ehemaliger Juraprofessor, der noch einmal die Orte besuchen will, an denen er mit seiner inzwischen verstorbenen Frau glückliche Momente erlebt hat. Katja, eine aus einer sich immer in Ungewissheit befinden Beziehung, stets Berufliches und Privates miteinander verbindend, flüchtende Frau. Beide schließen durch eine Laune der Natur, Turbulenzen, Luftwirbel, während des Fluges ungewollt Bekanntschaft.

Langsam, sehr langsam brechen die errichteten Mauern zusammen, immer begleitet von Zweifeln, hyperkritischer Selbstreflexion und Angst vor erneuten Verletzungen. Immer mehr drängt sich beiden die Frage auf, ob und wie sehr wir unser Leben selbst bestimmen oder äußeren Einflüssen, einer unerklärlich mächtig wirkenden Natur, ausgeliefert sind.

„Wirbel“ von Elisabeth Heidenreich ist eine Novelle über gleich doppeltes Aufbrechen. Einmal das langsame Zerbröseln jahrelang aufrechterhaltener Mauern, die das Leben zwar haben in scheinbar ruhigen Bahnen laufen lassen, in Wirklichkeit jedoch dafür sorgten, dass genau dieses Leben mit all seinen Facetten am Individuum vorbeirauscht. Aufbrechen aber auch in dem Sinn, als etwas Neues gewagt und Ballast, Lebensballast abgeworfen wird und der Mut zu Veränderungen gestärkt oder überhaupt erst einmal aufgebaut wird.

Das Verlassen der individuellen Schutzräume ist riskant und kann, die Autorin schlägt hier einen Bogen zu aktuellen Migrationsbewegungen, für manche, die unter Lebensgefahr ebenfalls auf der Suche nach besseren Lebensverhältnissen sind, tödlich sein.

Dieses Risiko besteht für Katja und Josef, europäisch sozialisiert und gut situiert, nicht, doch auch wenn der Zufall diese zwei Menschen zusammengeführt hat, sind sie es, die den weiteren Verlauf ihrer Leben und ihrer Beziehung bestimmen.

Obwohl nicht alles in unseren Händen liegt, stimmt „Wirbel“, eine mit melancholischem Ostinato geschriebene Novelle, deren Ende offen ist, jedoch optimistisch.




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Veröffentlicht am 22. Mai 2022