Sind Moral und ihre Manifestation in Form von gesellschaftlichen Konventionen schon von Anfang an im Menschen angelegt, oder bedürfen sie erst einer langen Schulung? Sind Gewalt, Brutalität und Egoismus nur individuelle Fehltritte, oder ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Psyche? Martin Suter gibt auf diese Frage in seinem Roman "Die dunkle Seite des Mondes" eine pessimistische Antwort.
Urs Blank, ein bekannter und berühmter Wirtschaftsanwalt, hat sein Leben scheinbar fest im Griff. Beruflich erfolgreich, finanziell in sehr soliden Verhältnissen lebend, besitzt er vordergründig alles, was sich ein Mensch nur wünschen kann. Die Begegnung mit einer jungen Frau und ein Drogenexperiment bringen sein Leben von einem Tag auf den anderen in eine vollkommen andere Bahn.
Die äußerst dünne Schicht moralischer und gesellschaftlicher Konventionen fällt mehr und mehr von ihm ab und bringt ihn in einen Zustand vollkommener Isolation. Geschickt gelingt es Suter dem Leser die Veränderung eines Menschen nahezubringen. Mehr als einmal bewundert man die Konsequenz mit der Urs Blank seiner triebhaften Individualität Ausdruck verleiht.
Nicht so sehr das experimentieren mit der Droge hat seine Persönlichkeit verändert, sondern es war nur der Katalysator für den Ausbruch seiner in ihm selbt schon angelegten, fast archaisch zu nennenden Triebe. Solange diese Reaktionen parallel zum gesellschaftlichen und beruflichen Konsens verlaufen, gilt ein Mensch als angepasst. Als Wirtschaftsanwalt hat er das Spiel von Jagen und Gejagtwerden perfektioniert. Auch dort waren sogenannte "Killerinstinkte" sehr nützlich.
Suters Roman zeig deutlich, das der "edle Wilde", wie sich ihn Rousseau als den idyllischen Ausgangspunkt seiner Kulturkritik vorgestellt hat, niemals existierte. Im Gegenteil, der Ausgangspunkt, aber vielleicht auch der Endpunkt menschlicher Zivilisation war und ist die archaische Gewalt. Unter der dünnen Decke der Moral brodelt ein niemals schlummernder Vulkan. Gewaltexzesse wie in Ruanda oder Ex-Jugoslawien belegen diese These.
Was im beruflichen und gesellschaftlichen Umgang miteinander als Anpassungsfähigkeit kaschiert wird, ist im Prinzip nichts anderes, als ein ewiges Lauern auf die richtige Beute. Der Stärkere frisst den Schwächeren. Große Firmen übernehmen kleinere und zwischenmenschliche Beziehungen basieren auf der Ästhetisierung von Gewalt.
Urs Blank hätte sein Leben auch ohne die Bekanntschaft mit Drogen verändert, zu sehr war dieser Akt der Befreiung schon in seiner Person angelegt. Konsequent geht er seinem logischen Ende entgegen, denn wer sich außerhalb der Gesellschaft aufhält, wer seinen Solipsismus auslebt, hat die öffentliche Meinung gegen sich. Aus diesem Grund wird er selber vom Jäger zum Gejagten. Gegen die Waffen der Zivilisation hat auch er keine Chance.
Der Roman ist gleichfalls eine Parabel auf das immer wieder aktuelle Thema Außenseiter und Etablierte. Ohne der moralischen Rigorosität des Protagonisten Beifall zu zollen, ist doch seine Konsequenz die er für sich zieht ein Ausdruck persönlicher Stärke. Doch er erkennt zu spät, dass die Gesellschaft ihn nicht als den "Anderen", den Außenseiter akzeptieren kann, denn würde sie es tun, besiegelte sie ihren eigenen Untergang. Das Leben muß konform weiterlaufen, die Alternative wäre eine zerstörerische Anarchie.
Die dunkle Seite des Mondes soll niemand sehen können, deshalb darf Urs Blank nicht überleben.
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