Buchkritik -- Karin Nohr -- Stummer Wechsel

Umschlagfoto, Buchkritik, Karin Nohr, Stummer Wechsel, InKulturA Unter dem dünnen Firnis bürgerlichen Verhaltens brodelt stets ein Vulkan aus Leidenschaft, Animosität und Einsamkeit und, daraus resultierend, eine selten nach außen gezeigte Verwundbarkeit, die nichtsdestoweniger durch ihr subversives Treiben immer auch das individuelle Verhalten bestimmt. Dieses ist stets eine Melange aus Verletzungen, erlitten in der Vergangenheit, und Fehlentscheidungen mitsamt deren oft lebenslang zu tragenden Folgen.

Ein Kirchenchor, ein Gymnasium und die Projektionen eigener Wünsche, Vorstellungen und Träume auf andere Personen, sind die Bühnen, auf denen die fünf Protagonisten in Karin Nohrs neuem Roman versuchen, ihrem Leben eine Richtung zu geben, miteinander auszukommen und dabei eigene Interessen, bis auf eine Ausnahme, nicht in den Hintergrund geraten zu lassen. Diese Ausnahme ist Melissa Dreyer, geschieden, Mutter eines erwachsenen Sohnes und Rektorin an einem Gymnasium. Dort ist sie der unumstrittene Mittelpunkt, das Zentrum, dass alles zusammenhält und eine Pädagogin, die sich stets schützend und helfend vor die Problemschüler stellt.

Auch im Kirchenchor ist Melissa eine der tragenden Säulen, gelingt es ihr doch als Sopranistin stets, die hohen Töne zu treffen, was besonders Herbert Michaelis zu schätzen weiß, der als Dirigent des Chores immer um dessen hohes künstlerisches Niveau bemüht ist. Nur all zu gern ist Melissa bereit, dem Leiter des Chors auch bei seinen Übungen an der Orgel, sie zieht die Register, zu helfen, denn, beruflich nüchtern, sachlich und engagiert, privat jedoch einsam, sie hat sich in Herbert verliebt und, obwohl rund zehn Jahre älter als er, hofft sie in ihm einen Seelenverwandten gefunden zu haben – weitergehendes nicht ausgeschlossen.

Ihre Gefühle erhalten einen abrupten Dämpfer, als sie Michaelis mit Marie Baumgarten, die „Neue“ im Chor und zugleich die neue Referendarin an Melissas Schule, in einer eindeutigen Situation beobachtet. Sie verlässt ohne offizielle Begründung den Chor, vergräbt sich in ihre Arbeit und leidet, nur bemerkt von ihrer Sekretärin Anja Miljes, still vor sich hin. Für Anja wiederum ist Melissa das Objekt ihrer Bewunderung und sie zieht im Hintergrund mithilfe ihres Verhältnisses mit dem verheirateten Schulrat Jürgen Pönsgen die Fäden, der pikanterweise auch die Einstellung Marie Baumgartens in die Wege geleitet hat, denn mit ihrer ungewöhnlichen Fächerkombination Russisch und Englisch passte sie haargenau ins schulische Anforderungsprofil.

Ein Messerangriff auf die Rektorin in deren Haus, vorschnell der Familie einer aus Afghanistan stammenden Schülerin an Melissas Gymnasium zugeschrieben, wirbelt den Kosmos der fünf Personen durcheinander und einmal mehr erweist sich Karin Nohr als unbestechliche Chronistin menschlicher Beweggründe, familiärer Bedingungen und den daraus entspringenden gegenseitigen Abhängigkeiten. Diese, wie ein ineinander verknotetes Wollknäuel wirkenden intimen Befindlichkeiten werden aufgedröselt, freigelegt und als Mechanismen beschrieben, die, auch und gerade durch familiäre Einflüsse, das Leben der fünf Personen diktieren.

Anklage ist nicht die Intention der Autorin. Im Gegenteil, durch Rückblenden und persönlichen, auch oft schmerzhaften Erinnerungen, lässt sie ihre Leserinnen und Leser teilhaben am selbst gewählten, manchmal aber auch fremd bestimmten Lebensweg ihrer Figuren und verschafft ihnen dadurch eine unterschwellige Sympathie, die dazu verhilft, deren Handlungen, Motive und Beweggründe nachvollziehen zu können.

„Stummer Wechsel“ ist ein Roman, dem es gelingt, mit leisen Tönen und einer subtilen Diktion über menschliche, allzu menschliche Abhängigkeiten, Befindlichkeiten, immerwährende individuelle Einsamkeit und die sich daraus ergebenden Friktionen zu erzählen.




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Veröffentlicht am 4. Januar 2020