Buchkritik -- Philipp Sterzer -- Die Illusion der Vernunft

Umschlagfoto, Buchkritik, Philipp Sterzer, Die Illusion der Vernunft, InKulturA Sind wir alle ein bisschen gaga? Na klar, denn wir halten an einmal getroffenen Entscheidungen und Überzeugungen fest, auch dann, wenn sie sich als Irrtümer erweisen. Das meint jedenfalls Philipp Sterzer, Psychiater an der Universität Basel, der sich unter anderem mit der visuellen Wahrnehmung beschäftigt.

Die zentrale Frage des Buches ist, wie Hirnfunktionen es uns ermöglichen, die Welt um uns herum zu verstehen. Ausgehend dafür sind seine Beobachtungen von Patienten, die an Wahnvorstellungen unterschiedlicher Charakteristik leiden. Wie sind, so fragt Sterzer, vordergründig verwirrt erscheinende und mit der Realität nicht vereinbare Aussagen von Patienten zu bewerten? Irrational und psychisch auffällig, oder gerade noch gesund und normal. Es gibt, so der Autor weiter, bei Wahnvorstellungen und den daraus resultierenden persönlichen Überzeugungen einen schmalen Grat zwischen logisch und irrational.

Es ist die alte und immer noch nicht befriedigend beantwortete Frage: Wie interpretieren wir die Daten, die uns die Welt liefert? Um diese zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, müssen mitunter akrobatische geistige Verrenkungen vorgenommen werden, unter anderem durch den Selektionsdruck der sozialen Umgebung. Wer sich der Mehrheit anpasst – Bestätigungstendenz –, hat es leichter. Auf diese Weise kann unsere geistige Disposition in Richtung vorgefasster Interpretationen und Überzeugungen tendieren.

Das Gehirn ist eine Vorhersagemaschine und nach dieser „Predictive-Processing-Theorie“ laufend damit beschäftigt, aufgrund bisheriger Wahrnehmungen und Erfahrungen die zukünftigen Ereignisse vorwegzunehmen. Unlogische oder außergewöhnlich Sinnesdaten und Wahrnehmungen werden automatisch korrigiert und passend gemacht. Im Prinzip hinken wir den Ereignissen immer einen Schritt hinterher. Unser Denkapparat ist also kein passives Werkzeug, sondern laufend bestrebt, mithilfe früherer Erfahrungen, ein für uns logisches Bild der Welt zu generieren.

Die Intention des Autors ist, Abweichungen von der „Rationalität“ zu entpathologisieren. Unser Reptilienhirn ist weder auf Wahrheit noch auf Vernunft gepolt, sondern auf Überleben und Fortpflanzung. Eine immerhin starke These.

Wie nun aber auf irrationale Überzeugungen reagieren, die sich auch durch noch so sachliche oder wissenschaftliche Erkenntnisse und Argumente nicht falsifizieren lassen, wie etwa, dass die Erde eine Scheibe sei?

Vielleicht besteht die Antwort darauf in der Möglichkeit, dass, u. a., die offiziell als Irrsinn bezeichnete Meinung, die „Neue Weltordnung“ sei eine Verschwörung von gelangweiltem Milliardären, gar nicht so abwegig ist? Dass also manche Irrationalität gar nicht so irrational ist?

Nichtsdestotrotz legt Philipp Sterzer ein hochinteressantes und allgemeinverständliches Buch vor, dessen Lesegenuss durch den exzessiven Gebrauch des Doppelpunktes allerdings arg geschmälert wird.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 15. Januar 2023