Buchkritik -- Heinrich Steinfest -- Das grüne Rollo

Umschlagfoto, Heinrich Steinfest, Das grüne Rollo, InKulturA Theo ist gerade mal 10 Jahre alt, als sich, jede Nacht pünktlich um 23:02, am Fenster seines Zimmers ein grünes Rollo manifestiert und ihm einen Blick in eine andere Welt ermöglicht, ja geradezu aufzwingt. Theo ist trotz, oder eigentlich wegen seiner Familie ein einsamer Junge. Die Eltern leben in ihrer eigenen emotionaler Kapsel, an der der Junge keinen Anteil nehmen kann. Sein älterer Bruder ist sadistisch veranlagt und lässt Theo seine physische Überlegenheit schmerzhaft spüren. Die Schwester ist magersüchtig und fällt mehr oder weniger aus dem familiären Rahmen. Es ist eine emotional freudlose Kindheit, die Theo verbringt.

Deshalb ist er sowohl ängstlich als auch neugierig, als das Rollo mit schöner Regelmäßigkeit an seinem Fenster erscheint. Die fremde grünfarbige Welt, von Steinfest durch grüne Textfarbe dargestellt, zieht ihn magisch an. Als er dort ein Mädchen sieht, das auf einem Laufband um ihr Leben zu kämpfen scheint, lässt er sich vom Sog des Rollos in die Welt von Nidastat ziehen. Dort angekommen, bemerkt er, dass es die "Männer mit den scharfen Augen", Fernrohre hängen vor ihren Gesichtern, sind, die das Mädchen quälen.

Er will Anna retten und begibt sich zusammen mit Annas vermeintlicher Mutter, dem Lastwagenfahrer Bela, dem Hund Helene und Lucian, einem eigenwilligen Messer, auf eine Odyssee durch Grünland.

Als er wieder in seine Welt zurückkehrt, stellt er mit Erstaunen fest, dass hier auf einmal Anna seine Schwester ist. Theo beginnt sich vor dem grünen Rollo zu fürchten und beschließt es zu vernichten. Vierzig Jahre taucht es nicht mehr auf und seine Erinnerungen an die Erlebnisse in Grünland verblassen zunehmend. Eines Tages jedoch, Theo ist inzwischen Astronaut und auf einem Flug zum Mars, taucht es wieder auf und zwingt ihn erneut nach Nidastat.

"Das grüne Rollo" ist ein poetischer Roman über Schein und Realität, deren Grenzen, gerade in den jungen Jahren eines Menschen, noch fließend und durchlässig sind. Heinrich Steinfest versteht es wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor mit den Realitäten zu spielen und daraus tiefgründige und philosophische Romane zu machen.

Es ist aber auch die Geschichte eines Menschenlebens, die der Autor durch den 50jährigen Theo rückblickend und faszinierend zu erzählen weiß. Zwei Ehen hat er hinter sich, fünf Kinder gezeugt und wurde eher aus werbewirksamen Gründen denn als wissenschaftliche Notwendigkeit mit auf die Marsmission genommen.

Mit leisen Tönen, zu denen auch eine unaufdringliche Ironie gegenüber tagesaktuellen Befindlichkeiten gehört, berichtet Theo von seinen Erfolgen, verschweigt jedoch auch nicht seine Niederlagen als Familienvater und Ehemann.

Zum Schluss verknüpft der Autor die beiden losen Enden seines Romans. Schein und Realität werden auf stimmige und bewegende Weise zusammengeführt. Mit "Das grüne Rollo" beweist Heinrich Steinfest nach dem "Allesforscher" erneut, wie poetisch Philosophie sein kann.




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Veröffentlicht am 24. Mai 2015