Buchkritik -- Linda Polman -- Die Mitleidsindustrie

Umschlagfoto  -- Linda Polman  --  Die Mitleidsindustrie Gut gemeint bedeutet nicht automatisch gut gemacht. Die beste Satire sind die real existierenden Zustände. Auf den ersten Blick haben diese beiden Sätze wenig miteinander zu tun. Nach der Lektüre des Buches Die Mitleidsindustrie von Linda Polman bekommen sie jedoch einen unmittelbaren Zusammenhang. Die niederländische Journalistin beschäftigt sich seit langem mit internationalen Hilfseinsätzen in humanitärischen und militärischen Krisenregionen. Das Buch ist ihr vorläufiges Fazit über die Ergebnisse dieser zahlreichen Aktionen.

Die Verteilung von Spendengeldern und Hilfsgütern hat sich zu einer umsatzstarken Industrie entwickelt. War sie noch vor dem Ende des Kalten Krieges das Tätigkeitsfeld weniger Organisationen, wie z. B. das Internationale Rote Kreuz, so haben sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus unzählige NGOs (Non-governmental organization), nichtstaatliche Organisation, die in den immer zahlreichen werdenden Krisengebieten humanitäre Hilfe leisten. In vielen Regionen Afrikas tummeln sich zahlreiche NGOs, deren Hilfe zwar gut gemeint ist, in Wirklichkeit jedoch Bürgerkriege und lokale Auseinandersetzungen eher verlängert als verhindert. Aus diesem Grund nennen Spötter diese Hilfsorganisationen nicht zu Unrecht "No Good Organizations". Jeder, der Geld spendet überlegt sich wohl mehr als einmal, ob seine Gabe auch dorthin gelangt, wo sie benötigt wird und ob die Ziele der jeweiligen Organisation, die die Spendengelder verwalten, diese sinnvoll und nutzbringend zu den Menschen bringt. Nach der Lektüre des Buches sind in dieser Hinsicht große Zweifel angebracht.

Lokale Warlords, egal ob in Afrika oder Afghanistan verdienen an den Hilfstransporten durch Erhebung von "Gebühren" nicht wenige Dollars. Oft verwenden sie die Hilfsmittel für ihre eigenen Truppen. Flüchtlingslager sind nicht selten Rückzugsgebiete von Kämpfern, die sich in eben diesen medizinisch versorgen lassen und, wieder zu Kräften gekommen, ihr blutiges Handwerk erneut aufnehmen. Die Beispiele der Autorin sind so zahlreich, dass sich auch einem unvoreingenommenen Beobachter die Frage, ob solche Hilfe die Konflikte nicht eher verlängert, als sie zu beenden, geradezu aufzwingt.

In erster Linie ist die organisierte Hilfe eine Multi-Millionen-Dollar Industrie und somit den Gesetzen des Marktes unterworfen. Wer viele Einsätze nachweisen kann, bekommt in der Regel das meiste Geld. Zudem ist humanitäre Hilfe ein Tummelplatz für evangelikale Sektierer, die, in Konkurrenz mit islamischen Organisationen, die Gunst der Stunde nutzen wollen, um auf "Seelenfang" zu gehen.

Die vielfach absurd anmutende, jedoch nicht gerade selten vorkommende Vernichtung von Spendengeldern weist Polman anhand zahlreicher Beispiele nach. Eine Million Dollar Spendengelder schrumpft in rasantem Tempo dahin, bevor sie an ihrem Bestimmungsort ankommt. Subunternehmer und andere Vertragspartner kassieren erst einmal für ihre eigenen Bemühungen einen horrenden Teil der Summe. Von dem wenigen Geld, das übrig geblieben ist, werden als Krönung des Irrsinns dann oft auch noch vollkommen unbrauchbare Gegenstände geliefert, wie z. B. Wollmützen und Daumenjacken nach Ruanda.

Die zahllosen Beispiele der Autorin aus afrikanischen Ländern, aus dem Irak und aus Afghanistan zeigen einen globalisierten Hilfskapitalismus, der ohne Rücksicht auf die politischen Situationen der jeweiligen Regionen, die Konflikte und damit auch die menschlichen Katastrophen eher verlängert, als sie zu bekämpfen. Das ist dann auch vielfach, Polman betont es zu recht, die Argumentation der NGOs. Die Hilfe soll jedem der sie benötigt zuteilwerden. Dass dadurch gleichzeitig die kriegstreibenden Parteien bedient werden, wird schulterzuckend in Kauf genommen.

Die Mitleidsindustrie kann als Drehbuch für ein Stück aus dem Tollhaus gelesen werden. Obwohl eindringlich menschliches Leid beschreiben wird, ist der Leser fast dazu gezwungen, menschliches, allzu menschliches Verhalten mit einem schallenden Lachen zu quittieren. Z. B. Krisenhelfer, die abends im Bordell die Töchter derjenigen Frauen für ihre Dienste entlohnen, denen sie am Tag sauberes Wasser gebracht haben. Der Wahnsinn hat Methode.

Linda Polman will humanitäre Hilfe nicht in Bausch und Bogen verurteilen. Sie plädiert jedoch für eine bessere Kontrolle der verwendeten Mittel. Angesichts des vielstimmigen Chores der Hilfsorganisationen und deren Eigenvermarktungen wird diese Forderung wohl auch in Zukunft nur einen Wunschcharakter besitzen.




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