Buchkritik -- Peter Stamm -- Weit über das Land

Umschlagfoto, Buchkritik, Peter Stamm, Weit über das Land , InKulturA Ein Mann, erfolgreich, verheiratet und Vater von zwei Kindern verlässt eines Abends seine Familie und verschwindet aus seinem bisherigen Leben. Keine Geliebte, keine Schulden und kein sonstiges erkennbares Motiv treibt Thomas "Weit über das Land". Peter Stamm hat unter diesem Titel einen verstörenden Roman geschrieben, der den Leser aufgrund der vom Autor vorgelegten Vagheit irritieren dürfte.

Warum überlässt dieser Mann seine Familie einem ungewissen, zumal finanziell vielleicht prekären Schicksal? Aufstehen und gehen; ein typisch männliches Verhalten von Verantwortungslosigkeit und Egoismus? Mitnichten, der Roman erzählt eine Geschichte, wie sie typischer für unsere Zeit nicht sein könnte. Obwohl in der Regel materiell saturiert, spüren wir zutiefst einen Mangel, den zu benennen, dem auf die Spur kommen, wir uns fürchten.

Leben, zumal das gewohnte, als gescheiterter Selbstversuch in Sachen Eigenbetrug erfahren, ist, wenn sich endlich an der Oberfläche des Bewusstseins diese Erkenntnis durchsetzt, nicht mehr möglich. Bevor die Rationalität des Alltäglichen einsetzt, ist Thomas bereits auf dem Weg ins Ungewisse, getrieben von einem Hunger nach etwas anderem, dass sich jedoch mit dem Verstand allein nicht erklären lässt.

Weiter, immer weiter treibt es diesen Mann, sich keine Gedanken machend, schon gar keine der Scham und Reue angesichts von zwei zurück gelassenen kleinen Kindern, den Tag und die Dinge so nehmend wie sie sich ergeben und erst viel später, viele Kilometer Distanz zur Vergangenheit, eine unklare Zukunft planend.

Dieser Roman ist von einer sprachlos machenden Radikalität, der um die Einsamkeit seiner Figuren kreist. Niemand vermisst irgendjemand. Während Astrid anfänglich aus Furcht vor dem "Gerede" das Verschwinden ihres Mannes mit einer langwierigen Krankheit zu kaschieren versucht, stellen die beiden Kinder bereits nach kurzen Zeit keine Fragen mehr zum Verbleib ihres Vaters. Die Zurückgebliebenen verstummen in Sprachlosigkeit und richten sich im neuen Status quo ein.

Geschickt leitet Peter Stamm die Handlung in ein " was wäre wenn" über, als Thomas im Gebirge verunglückt und dieser Vorfall eine Bifurkation darstellt und die Dramaturgie jetzt ins Mögliche umschlägt, immer im Ungewissen darüber, wo die Grenze zwischen Realität – wessen Realität? - und Fiktion verläuft.

"Weit über das Land" ist ein stiller, aber aufwühlender Roman über menschliche Freiheit und das letztendliche Scheitern an ihr.




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Veröffentlicht am 27. November 2016