Maxim Ossipow ist neben seiner literarischen Tätigkeit Arzt. Ein Kardiologe, der mit seinen Erzählungen und Essays nicht nur den Körperteil seiner Profession, das schlagende, pumpende, den Menschen am Leben erhaltene Herz untersucht, sondern, tiefer und darüber hinausgehend, die Seele des neuen Russland seziert.
Ein Russland, das auf drei Füßen steht. Einer in der jüngsten sowjetischen Vergangenheit, einer in der Gegenwart, in der zumindest die Jüngeren irgend ein Business betreiben und einer, der im Westen, vorzugsweise in den USA, geschuldet der Utopie von Freiheit und Wohlstand, den Sehnsuchtsort sieht.
Ossipow schreibt über die Widersprüche eines Landes, in dem die ältere Generation sich schwertut mit den nicht immer geglückten Veränderungen. Die Provinz und ihre Charaktere, teils mit ironischer, teils sarkastischer Diktion beschrieben, als Mikrokosmos, der im Kleinen den Irrsinn der großen Politik nachvollzieht.
Obwohl einige der Geschichten in oder um Krankenhäuser spielen, handelt es sich nicht primär um medizinische Geschichten, sondern um gut beobachtete und fein skizzierte Notizen über das russische Kleinstadtleben vor und nach der historischen Zäsur, dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Für die älteren Charaktere wird die UdSSR, je länger sie zurückliegt, eine Frage verklärender Nostalgie, in der man sich, auch wenn politische Willkür und Denunziation blitzartig zuschlagen konnten, trotz aller Mängel eingerichtet hatte. Für die Jüngeren ist es eher ein historisches, weit entferntes Narrativ, das von Eltern und Großeltern erzählt wird. Einigkeit besteht nur darin, dass das alte System viele Mängel hatte, aber das neue Russland ebenfalls. So sind einige der Figuren davon überzeugt, dass die Dinge im Westen viel besser sein werden. Doch diejenigen, die tatsächlich in den Sehnsuchtsorten, wie Deutschland oder Amerika ankommen, erfahren eher Ernüchterung als Erfüllung.
Eine der Kurzgeschichten ist stellvertretend für die Ambivalenz der Befindlichkeiten, die das durchgehende Thema in „Kilometer 101“ darstellen. „Die Zigeunerin“ handelt von zwei Frauen, die versuchen, jede auf ihre Weise, sich den Umständen entgegenzustemmen. Eine blinde und beinamputierte Frau macht mit ihrem Mann eine beschwerliche Reise, um ihre letzten Tage in Amerika im Kreis der Familie zu verbringen. Der sie begleitete russische Arzt, stellt desillusioniert fest, dass ihr Sohn diese Hoffnung enttäuschen wird, denn seine Eltern werden nicht mit seiner Familie zusammenleben, da es in Amerika anders gehandhabt wird. Sie werden in ein „gutes Zuhause“, sprich in ein Altersheim gebracht. Die Zigeunerin, nur kurz erwähnt, krank, unerwünscht und misstrauisch, will nicht im Krankenhaus bleiben, sondern nur einige der „guten Pillen“.
Mit viel Empathie für seine Figuren schreibt Maxim Ossipow Geschichten über die Absurdität, Korruption und Alltäglichkeit des modernen russischen Lebens.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 22. März 2021