Buchkritik -- Allen Frances -- Normal

Umschlagfoto, Allen Frances, Normal, InKulturA Wo endet normales Verhalten und wo beginnen psychische Auffälligkeiten? Was kann und muss eine Gesellschaft akzeptieren und wann ist es geboten, medizinisch oder therapeutisch einzugreifen? Die Frage nach dem Normalen, dem noch zu tolerierenden Verhalten, polarisiert. Jeder weiß um die Tatsache, dass bei unterschiedlichen ärztlichen Konsultationen ebenso viele Diagnosen herauskommen. Eines jedoch ist festzustellen: Die Zahl der Fälle, in denen ein von der Norm abweichendes Verhalten konstatiert wird, ist steigend.

Der amerikanische Psychiater Allen Frances hat sich in seinem Buch "Normal - Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" mit diesen Auswüchsen beschäftigt und sie einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen. Seine Untersuchung bezieht sich zwar in erster Linie auf das US-amerikanische Handbuch zur Klassifizierung psychischer Störungen, das DSM-5 (Diagostic and Statistical Manual of Mental Disorders), man kann seine Ausführungen aber ohne Zweifel auch auf die um sich greifende Pathologisierung abweichenden Verhaltens in Deutschland übertragen.

Wenn, wie Allen Frances es feststellt, die Zahl der psychiatrischen Diagnosen konstant steigt, dann stimmt etwas nicht mit den Bewertungskriterien. Wurde es z. B. vor 40 Jahren noch als normal angesehen, wenn ein Mensch ein Jahr lang um einen verstorbenen Angehörigen trauert, so hat sich heute diese Periode auf einen Zeitraum von wenigen Wochen reduziert. Wer es nicht schafft, seine Trauer in dieser Zeitspanne zu bewältigen, gilt zumindest als verhaltensauffällig und bedarf, so zumindest die Lesart des DSM-5, ärztlicher Behandlung.

Der Autor stellt natürlich die Frage, wer an dieser inflationären Zunahme von psychischen Störungen verdient. Das ist einmal die pharmazeutische Industrie, die mit ihren Produkten zur "Lebensbewältigung" enorme Umsätze macht, da sind aber auch zu viele Ärzte, denen weniger an einer korrekten Diagnose liegt, als vielmehr daran, den Wünschen ihrer Patienten nach Medikamenten nachzukommen.

Es ist das von der Werbung stetig wiederholte Bild des immer lächelnden und gut gelaunten Menschen, das in Konflikt gerät mit den gesellschaftlichen Realitäten. Gerade in Zeiten der Krise - und wer zweifelt daran, dass wir uns in einer solchen befinden - wird das Individuum dazu getrieben, sich so konform wie möglich zu verhalten. Zweifel, Angst vor Versagen, Nervosität, Herdentrieb und Leistungsdruck sind die bestimmenden Faktoren des modernen Lebens. Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind gezwungen, im Zirkus Kapitalismus unsere Tretmühle zu bedienen. Wer glaubt dazu nicht mehr in der Lage zu sein, findet in den Produkten der Pharmakonzerne scheinbar gute Helfer.

Nichts könnte falscher sein, argumentiert Frances zu Recht. Der Begriff des Normalen ist pervertiert worden. Psychiater täten gut daran, ihren besessenen Kampf gegen die Normalität auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Diese Besessenheit wird an der Tatsache, dass inzwischen in interessierten Kreisen 10 Prozent der Jungen in Deutschland als krank gelten, nur weil sie ihrem natürlichen Bewegungsdrang folgen, besonders deutlich. ADHS ist, so Frances, eine der vielen Psycho-Moden, an denen Ärzte und Pharmakonzerne sehr gut verdienen.

Der Autor plädiert für ein ruhigen und gelassenen Umgang mit scheinbar von der Norm abweichendem Verhalten. Nicht jede kleine Macke ist pathologisch.




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