Buchkritik -- Frieda Norka -- Rückkehr ins Kinderseelen-KZ

Umschlagfoto  -- Frieda Norka  --  Rückkehr ins Kinderseelen-KZ Erfurt im April 2002, Emsdetten im November 2006, Winnenden im März 2009 und Ansbach im September 2009 sind Synonyme für die bislang schwersten Gewaltverbrechen, die in Deutschland an schulischen Einrichtungen verübt worden sind. "School Shouting" ist das traurige, beileibe jedoch nicht das einzige Resultat einer Gesellschaft, die sich freiwillig und nahezu konform dazu entschlossen hat, den Nöten, Ängsten und Befindlichkeiten ihrer Kinder kein Gehör mehr zu schenken. Diese täglich an Kindern verübte psychische Kindesmisshandlung findet ihre Fortsetzung in dem, was sich neudeutsch "Schulmobbing" nennt.

Frieda Norka hat mit ihrem Roman Rückkehr ins Kinderseelen-KZ diesem Thema, das von den meisten Beteiligten - Lehrern, Schulleitern und Eltern - aus Scham oder um die Reputation der Schule nicht zu gefährden, gern verschwiegen wird, einen breiten Raum in der öffentlichen Wahrnehmung verschafft. Eine fiktive Dokumentation, so der Untertitel des Buches, zeigt den schulischen und privaten Leidensweg des Konrad Gussler, der lange nach dem Ende seiner Schulzeit anlässlich eines Klassentreffens in einer Orgie aus Gewalt und Blut endet.

Konrad, durch einen Unfall seiner Eltern früh zum Waisenkind geworden und von seinen Großeltern aufgezogen, gerät durch seinen Schulbesuch in eine Spirale aus Psychoterror und angewandter Gewalt seitens seiner Mitschüler. Schnell in der Rolle des Außenseiters festgeschrieben, beginnt für Konrad ein unerträgliches, Jahre währendes Martyrium, das von den Lehrern weder bewusst wahrgenommen, geschweige denn verhindert wird. Als Ergebnis der permanenten Schikanen seitens der Mitschüler und einer sadistischen Rollenfestlegung seitens der Lehrer zeigt Konrad immer wieder "unspezifische" Krankheitssyndrome, deren Ursache niemand erkennen will.

Dazu gezwungen, sich vor der permanent feindlichen Umwelt zu schützen, zieht er sich in seine eigene Psyche zurück und versucht vergeblich, in seiner schulischen Umwelt zu einem "Unsichtbaren" zu werden. Abstellkammern, Toiletten, Fahrradkeller und dunkle Ecken werden seine Zufluchtsorte in einer Schule, die jeden Charakter kindlicher Unbeschwertheit verloren hat und für Konrad zur alltäglichen Hölle wird.

Frieda Norka erzählt den Leidensweg des Konrad Gussler mit einer für den Leser schier monströsen und verstörenden Intensität. Im ersten Kapitel monologisiert eine gequälte Seele anhand von Tagebucheinträgen, verzweifelten Einschüben und ungehört verhallenden Hilfeschreien über die jahrelange Vernichtung einer Persönlichkeit. Seiner Umwelt gegenüber sprachlos gemacht, vertraut Konrad sich ausschließlich seinem Tagebuch an. Wortgewaltig und mit einer erschütternden Detailliertheit wird der Leser mit dem täglich angewandten Sadismus von Bürgerkindern konfrontiert, dessen ausgemachtes Ziel die totale Auslöschung eines Individuums darstellt. Auf diesem über dreihundert Seiten währenden Leidensweg ist man des Öfteren dazu gezwungen, den Roman beiseitezulegen, denn die menschlichen Abgründe, sowohl diejenigen der Schüler, als auch die des Lehrpersonals, übersteigen mehr als einmal die Leidensfähigkeit des Lesers.

Im Gegensatz zur "Öffentlich-Rechtlichen" Suche nach den üblichen Verdächtigen nach Amokläufen an deutschen Schulen, die in der gebetsmühlenhaft vorgetragenen Behauptung gipfelt, dass brutale Video- und Computerspiele für die Taten ausschlaggebend sind, verortet die Autorin die Quelle und den letztendlichen Auslöser der von Konrad zum Schluss verübten Rache einzig im schulischen Milieu.

Frieda Norka ist sich sehr wohl darüber bewusst, dass es mehr darstellt, als nur einen Tabubruch, wenn sie das "System" Schule im nächsten Atemzug als Kinderseelen-KZ bezeichnet. Indem sie die Diskussion förmlich auf die augenscheinlich vorhandenen systemimmanenten Fehlentwicklungen der, wie sie sich in einem Interview mit ef-online äußert, "staatlichen Zwangseinrichtungen" lenkt, legt sie ihren Finger in eine Wunde, die zu sehen sich nicht wenige Verantwortliche weigern.

Rückkehr ins Kinderseelen-KZ ist ein Roman, dem es wirklich gelungen ist, mit einem Tabu zu brechen. Physische und psychische Gewalt - Mobbing - in der Schule darf nicht länger aus fadenscheinigen Gründen verschwiegen werden. Wenn daraus eine Generaldebatte über das "System" Schule entsteht, dann hat dieses Buch dazu beigetragen. Für mich ist der Roman von Frieda Norka die wichtigste Neuerscheinung des Jahres 2010.




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