Buchkritik -- Juli Zeh -- Neujahr

Umschlagfoto, Buchkritik, Juli Zeh, Neujahr, InKulturA Autsch! Der neue Mann, neu im Sinn eines, was auch immer das bedeuten mag, aufgeklärten Familienmodells, ist alles, Teilzeiternährer, Nachwuchsbetreuer, Koch und Küchenmamsell, doch leider fehlen diesem Prototyp weichgespülter Frauenwünsche so ziemlich alle männlichen Eigenschaften. Wie ein mental kastrierter Primat fügt sich Henning, schon der Name weckt Assoziationen wie z. B. ein eine Nummer zu großer gestreifter Rollkragenpullover und eine „das macht mich jetzt aber betroffen“ Diktion, in die für ihn von der Gesellschaft vorgesehene Rolle.

Allein Henning ist ein unglücklicher Mann. Zwar redet er sich permanent ein, wie gut es ihm doch geht, die Kinder sind „prima“, seine Frau Theresa, die übrigens bedeutend mehr zum Familieneinkommen beiträgt als ihr Mann, eloquent und gebildet, zudem attraktiv und sportlich, gleichzeitig treten bei ihm jedoch Panikattacken und Angstzustände auf, deren Ursache weder ein Arzt noch ein Therapeut findet.

Es ist Silvester und die Familie verbringt ein paar Tage auf Lanzarote. Das Budget ist schmal und reicht nur für eine bescheidene Unterkunft und so betrachtet Henning die großen Fincas mit ihren Swimmingpools teils mit Neid, teils mit Verachtung. Sexuell läuft zwischen ihm und seiner Frau seit längerer Zeit nichts mehr, doch Theresa ist, das führt Henning ein wohl nicht nur tanzwütiger Franzose beim Silvesterball vor, gern bereit, auf die gemachten Avancen einzugehen, wenn auch nur beim Tango.

Er kann einem schon leid tun, dieser neue Mann. Doch Henning will es wissen. Am Neujahrstag, bekanntlich gelten zu diesem Zeitpunkt noch die guten Vorsätze des neuen Jahres, schnappt er sich ein Fahrrad und begibt sich auf eine Tour, die wohl auch einem trainierten Sportler einiges abverlangt. Nun ist der biedere neue Mann alles andere als trainiert und auch seine Vorbereitung dieser Fahrt, steil hinauf nach Femés ist erbärmlich, weil nicht vorhanden. Kein Wasser, keine Proteinriegel, nichts was der Körper auf solch einer Strecke dringend braucht.

Je mehr die anspruchsvolle Strecke ihren Tribut fordert, desto mehr reflektiert Henning sein Leben, seine Ehe und seine psychischen Probleme, die, weil keine objektiven, d. h. physischen Gründe gefunden werden, dazu angetan sind, das Verhältnis zwischen ihm und Therese weiter zu unterminieren.

Mit Mühe und Not erreicht er sein Ziel, um zu erfahren, dass er bereits in seiner Kindheit dort einen Urlaub mit seinen Eltern gemacht hat und, zusammen mit seiner Schwester, ein traumatisches Erlebnis hatte, das vielleicht, ganz präzise wird Juli Zeh hier nicht, für seine psychischen Probleme verantwortlich ist.

Die Autorin erzählt mit der von ihr gewohnten Souveränität eine Geschichte, die sprachgewaltig und präzise die Probleme analysiert, denen die Männer unterworfen sind, die sich anschicken, eben dem modernen Bild des Mannes Genüge zu tun. Dass das mitunter einer Selbstverleugnung gleichkommt, beweisen Hennings Probleme, die nicht nur seinem traumatischen Erlebnis in der Kindheit geschuldet sind, sondern vielmehr aus Zweifel an sich selbst und seiner Rolle als Mann.

Doch Juli Zeh erzählt eine weitere Geschichte, nämlich die von Verletzungen zweier Kinderseelen, die bis ins Erwachsenenalter reichen und, wie bei seiner Schwester, für autodestruktive Probleme verantwortlich sind. Es ist dieser zweite Teil des Romans, der wirklich unter die Haut geht und Zeh erspart dem Leser keine grausame Einzelheit.

Dabei, und das ist das erschreckend Faszinierende an diesem Werk, geht es der Autorin nicht um billige Effekthascherei, sondern sie seziert mit ihren Sätzen das Drama einer Kindheit, das, verschuldet von egozentrisch und verantwortungslos agierenden Eltern, dazu angetan war, die Psyche zweier Kinder zu destabilisieren.

„Neujahr“ hinterlässt zwiespältige Gefühle. Zum einen eine larmoyante männliche Figur, die im Übereifer einem Rollenbild zu genügen sich selber verliert. Zum anderen jedoch eine höchst emotionale Schilderung zweier im wahrsten Sinn des Wortes verlorenen Kinder. Für diesen Roman im Roman gilt: Daumen hoch!




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Veröffentlicht am 17. November 2018