Buchkritik -- Ferdinand von Schirach -- Nachmittage

Umschlagfoto, Buchkritik, Ferdinand von Schirach, Nachmittage, InKulturA Rückblicke, immer öfter der Versuch, Rechenschaft vor dem gnadenlosen Richter mit dem Namen Erinnerung abzulegen, Scheitern, öfter als es uns bewusst war, einzugestehen und die wenigen Augenblicke gelungenen Lebens zu rekapitulieren, kurz gesagt, die Bilanz eines Lebens zu ziehen, erfordert Mut, führt uns doch die eigene Vergangenheit, die getroffenen Entscheidungen, Abkürzungen und Umwege, oft Irrwege, immer nur wieder zurück in die Gegenwart und der schmerzhaften Gewissheit, nichts mehr ändern zu können.

So liegt auch über allen Geschichten eine Melancholie, die sich auf dem schmalen Grat zwischen richtig und falsch, zufällig und gewollt und der Fragilität und Flüchtigkeit des Glücks bewegt. Zufällige Begegnungen mit Personen, die den eigenen Lebens- und Berufsweg gekreuzt haben, rufen längst vergessen geglaubtes wieder hervor.

Die Frage, ob wir Spielball des Schicksals oder Meister des eigenen Lebens sind, tritt über die wuchtige Erkenntnis der individuellen Einsamkeit in den Hintergrund. Sie ist es, die unser Leben bestimmt und niemand kann ihr entkommen. Mit ruhiger Abgeklärtheit und wohlwollender Distanz betrachtet Ferdinand von Schirach die Menschen, die ihm ihre Lebensgeschichte erzählen und die er unkommentiert im Raum stehen lässt.

Wie so oft erweist sich die Frage von Gut und Böse als sinnlos, denn eingebunden in die jeweiligen Lebensumstände ergeben sich ebensoviele Wahrheiten, wie es Möglichkeiten gab. Der Blick zurück, unverklärt, kann nur die irrwitzigen Begebenheiten aufzählen. Was bleibt ist die lapidare Antwort auf die Frage nach dem Sinn all dessen: Es ist, wie es ist.

„Nachmittage“ verwandelt die Person des Erzählers in die eines unvoreingenommenen Zuhörers, der, ohne zu werten, angesichts dessen was ist, immer nur Chronist sein kann.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 11. September 2022