Buchkritik -- Nicola Lagioia -- Eiskalter Süden

Umschlagfoto, Buchkritik, Nicola Lagioia, Eiskalter Süden, InKulturA Der Fahrer eines Kleinlasters kann der Frau, die, nackt und mit Spuren körperlicher Misshandlungen, plötzlich vor ihm auf der Fahrbahn auftaucht, nicht mehr ausweichen und es kommt zu einem tödlichen Unfall. Aus dem, was wie der Beginn eines Kriminalromans erscheint, macht Nicola Lagioia ein groß angelegtes Panorama des Mezzogiorno, dessen gesellschaftliche und politische Realität weit abseits eines in Brüssel propagierten gesamteuropäischen Normenkatalogs angesiedelt ist.

In Bari hat der Unternehmer Vittorio Salvemini über die Jahre aus einer kleinen Baufirma einen international operierenden Konzern geschmiedet, der nicht nur mit dem Bau von Gebäuden und Straßen Geld verdient, sondern, wie ähnliche Firmenkonstruktionen auch, durch den Aufkauf von Land, dessen Parzellierung und der Errichtung und des Verkaufs von Häusern mit gehobenem Ambiente.

Salvemini hat im Lauf der Zeit ein Netzwerk aus Verwaltung, Politik, Polizei und Kirche geschaffen, das dafür sorgt, sein Unternehmen mit den notwendigen Expertisen und Ausnahmeregelungen zu versorgen. Intime Kenntnisse individueller Vorlieben, gemeinsame finanzielle Interessen und gegenseitiger Schutz bilden eine Sphäre aus Abhängigkeiten und oberflächlichen, stets dem Eigenwohl dienenden Interessengemeinschaften. Gesetze und Umweltbestimmungen erweisen sich in den Händen dieser Männer als Farce, denn diejenigen, die deren Durchsetzung überwachen und garantieren sollen, sind alle Mitglieder dieses verflochtenen, auf finanziellen Vorteil bedachten Systems.

Was im Geschäftsleben hervorragend funktioniert, lässt sich allerdings nicht auf das Familienleben der Salveminis übertragen. Annamaria, Vittorios Ehefrau, erfüllt ihre gesellschaftlichen Pflichten mit Bravour, ist jedoch ausschließlich auf ihre Familie fixiert, dessen, da ihr Ehemann häufig aus Geschäftsreisen geht, Mittelpunkt sie ist. Trotzdem bleibt das Verhältnis zu ihren Kindern, Ruggero, Clara und Gioia, von Lagioia genau analysiert, in einem Schwebezustand zwischen übertriebener Mutterliebe und demonstrativem Desinteresse, dass allein in der hervorragenden materiellen Versorgung der Familie bereits den Garanten einer glücklichen Kindheit und Jugend verortet.

Vittorio hat, wie alle Mitglieder des Netzwerks, zahlreiche außereheliche Kontakte. Aus seinem letzten Verhältnis, das in ihm, dem harten Geschäftsmann noch einmal schon verloren geglaubte Gefühle auslöste und er innerlich bereits die Scheidung von seiner Frau vorbereitete, stammt Michele, der nach dem plötzliche Tod der Geliebten in die Familie aufgenommen wurde.

Während Ruggero dem Lebensweg seines Vaters folgt, ein internationales Studium absolviert und, nach Bari zurückgekehrt, Leiter des dortigen namhaften Krebszentrums wird, ist Clara das gesellschaftliche Aushängeschild der Familie. Jung, schön und eloquent, avanciert sie zum gesellschaftlichen Mittelpunkt Baris. Gioia, die jüngste Schwester dagegen beschränkt sich auf den Luxus, den ihr das Vermögen ihres Vaters garantiert und verharrt in Oberflächlichkeit.

Michele ist der Außenseiter, das schwarze Schaf der Familie. Seit er auf dramatische Weise erfuhr, dass er kein leibliches Kind der Salveminis ist, zieht er sich innerlich zurück und distanziert sich immer mehr von Eltern und Geschwistern. Einzig zu Clara baut er eine emotionale Beziehung auf, nicht ahnend, dass diese, als sie abrupt endet, ein Grund für Claras tragisches Ende sein wird.

Nicola Lagioia erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, sondern darüber hinaus beschreibt er den Zustand der gesellschaftlichen Elite Süditaliens, die, stets eingebettet in die lukrativen Intrigen der Wenigen gegen die Vielen, den eigenen Vorteil im Auge hat.

Diesem gegenüber steht Michele, der sich der Vereinnahmung durch tradierte Gepflogenheiten entzieht. Lagioia lässt den Leser mit Hilfe zahlreicher Rückblenden teilhaben an der Einsamkeit des Kindes, die im Lauf der Jahre in Provokation und Auflehnung umschlägt. Clara ist fasziniert von der geistigen und materiellen Unabhängigkeit ihres Stiefbruders, der sich weigert, eine traditionelle, dem Ruf der Familie Salvemini entsprechende Rolle zu übernehmen.

Als Vittorios Frau darauf drängt, Michele in ärztliche Behandlung zu geben, bezieht Clara gegen ihre Familie Stellung und legt damit einen weiteren Grundstein für ihr zukünftiges Schicksal. Sie, die sich offiziell nicht weigert, der Familientradition zu folgen, heiratet einen Angestellten ihres Vaters, gleitet jedoch ab in eine Welt aus Drogen und hartem, außerehelichem Sex.

Militär oder Psychiatrie, das sind die beiden Alternativen, die die Salveminis für Michele in Betracht ziehen. Schließlich bekommt er sowohl die Macht des einen als auch die Ohnmacht des anderen zu spüren, zielen doch beide Institutionen auf das Brechen des Individuums. Als Michele vom Tod Claras erfährt, ist er der einzige, der die offizielle Version vom Selbstmord seiner Schwester infrage stellt und er beginnt, an den vermeintlich heilen Fassaden von Baris guter Gesellschaft zu kratzen.

Doch, und auch das verschweigt Nicola Lagioia nicht, es gibt neben dem Netzwerk der gesellschaftlichen Elite eine noch weitaus mächtigere Interessengruppe. Als bei einem von Salveminis Bauprojekten eine hochgradige Verseuchung des Bodens festgestellt wird, erzählt er mit wenigen Sätzen, wer dort die wirkliche Macht besitzt, gegen die sich aufzulehnen nicht selten lebensgefährlich ist.

"Eiskalter Süden" ist ein sprachlich und stilistisch hochklassig - ein Dank an die Übersetzerin Monika Lustig - angelegtes Portrait der Elite des Mezzogiorno, die längst das Land unter sich aufgeteilt hat und durch ihre Positionen in Administration und Politik dafür Sorge trägt, dass alles beim Alten bleibt.




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Veröffentlicht am 23. Oktober 2016