Oskar Ritter von Niedermayer, eine heute weithin vergessene Person der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war der Leiter der ersten deutschen Militärmission in Afghanistan. In einer Zeit, in der die damaligen Groß- und Kolonialmächte ihre Einflußsphären erweiterten, oder zumindest verteidigen wollten, in der der 1.Weltkrieg eine Neuordnung der politischen Kräfte Europas bringen sollte, spielte die "politische Geografie" der Mächte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Was heutzutage allgemein mit dem Wort Globalstrategie beschrieben wird, war fast ein Jahrhundert zuvor das Bestreben der großen Nationalstaaten wie England, der Türkei, Russland, Deutschland, etc. ihren politischen Einfluß in damaligen strategisch wichtigen Ländern des Nahen Ostens, aber auch in Asien zu verstärken und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß das politischen Gewicht der anderen Staaten nicht den jeweils eigenen Machtbereich störte.
Inmitten dieser zweiten Front findet der Leser die Figur des Oskar Ritter von Niedermayer, von dem Zeitgenossen behaupteten, er sei der deutsche Gegenspieler des Lawrence von Arabien, ein englischer Offizier, dem es gelang, die arabischen Beduinenstämme zum Kampf gegen die türkischen Eroberer zu vereinen und somit den britischen Einfluß im Nahen Osten zu festigen.
Hans-Ulrich Seidt, Diplomat und Historiker, erzählt in seinem Buch Berlin, Kabul, Moskau den Lebensweg dieses, auch nach heutigen Maßstäben noch schillernd zu nennenden Mannes. Gleichzeitig ist es jedoch auch ein vortrefflicher Bericht über die damaligen, für den Außenstehenden und politischen Laien, politischen Verwirr- und Ränkespiele, die denen der Moderne in nichts nachgestanden haben dürften. Persien und Afghanistan, Bagdad und Kabul sind neben Moskau die bedeutenden Stationen im Leben des Oskar Ritter von Niedermayer.
Als Offizier der Reichswehr in Geheimmissionen in besagten Ländern unterwegs, war es das politische Bestreben Deutschlands den Einfluß Englands und Russlands zu vermindern und den eigenen zu erhöhen. Die Aufgabe der ersten deutschen Militärmission in Afghanistan diente dem Ziel, einen Aufstand gegen die britische Kolonialmacht in Indien zu organisieren. Dieses Ziel wurde nicht erreicht.
Niedermayer war nicht nur Soldat und Offizier, sondern sein Interesse und seine Leidenschaft galt gleichzeitig dem Orient. Auf seinen Missionen, die als wissenschaftliche Expeditionen getarnt waren, erwies er sich als profunder Kenner der arabischen Verhältnisse. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges baute er auf den Befehl der Reichswehr ein Ausbildungszentrum für die Luftwaffe und die Panzertruppe in Russland auf. Durch einen Vertrag mit der russischen Revolutionsregierung wurden russische und deutsche Offiziere im Austausch zwischen beiden Ländern ausgebildet. Aus dieser Zeit resultierte sein Respekt der vor russischen Aufbauleistung - eine Tatsache, die ihn Jahre später in Konflikt mit der NS-Regierung bringen sollten.
Hans-Ulrich Seidt zeigt in seiner Biografie einen facettenreichen, überaus gebildeten Menschen, von dem der Leser trotzdem einen zwiespältigen Eindruck erhält. Was waren die wirklichen Interessen dieses Mannes? War er gefangen in seinen eigenen geopolitischen Vorstellungen vom zukünftigen Einfluß Deutschlands? Arbeitete er mit oder gegen das NS-Regime? Seine Verhaftung und die Anklage wegen Wehrkraftzersetzung im Jahr 1945 spricht dafür. Nach einer Flucht aus dem Gefängnis in Torgau stellte er sich den Truppen der Roten Armee, in der Hoffnung, das ihn seine russischen Kontakte die er noch aus der Zeit des Deutsch-Russischen Offiziersaustausches hatte, retten würden. Eine fatale Fehleinschätzung. Niedermayer starb in russischer Gefangenschaft.
Dieses Buch, zweifellos für ein größeres Publikum als Fachgelehrte geschrieben, beleuchtet einen Zeitraum der deutschen Geschichte, der dem aktuell meinungsführenden Politestablishment immer nur die gleichen Argumente entlockt. Desto wichtiger ist dieser Beitrag von Hans-Ulrich Seidt. Gilt es doch die aktuelle deutsche Außenpolitik auf die kommenden Konflikte vorzubereiten. Wie könnte dies besser geschehen, als aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Der Autor führt seinen Leser fachkundig und objektiv an die verschiedenen Facetten des Oskar Ritter von Niedermayer heran. Er zeigt sowohl die intellektuelle Seite dieses überaus interessanten Mannes, als auch seine tragische Verstrickung in und mit der NS-Hierarchie. Sehr positiv fällt auf, das er sich eines abschließenden Urteils über sein Objekt enthält, da entscheidende biografische Fakten fehlen und vielleicht auch nie mehr auftauchen werden. Dieses Buch ist eine an- und aufregende Arbeit über ein Kapitel der deutschen Außenpolitik, dem in der Regel nicht viel öffentliche Beachtung geschenkt wird. Hans-Ulrich Seidt hat diesen Zustand mit seinem Buch geändert.
Meine Bewertung: