Buchkritik -- Ferdinand von Schirach -- Jeder Mensch

Umschlagfoto, Buchkritik, Ferdinand von Schirach, Jeder Mensch, InKulturA Warum nur fällt mir bei pathetischen geratenen Ansprachen oder gar Forderungen, die mit dem Wort „Wir“ beginnen, immer das Carl Schmitt zugeschriebene Diktum „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ ein? Weil, um die Antwort gleich hinterherzuschieben, die generalisierte Verwendung dieses Personalpronomens in der Regel bedeutet, dass ganz andere, als die vollmundigen „Wir“-Forderer für Kosten und Nebenwirkungen aufkommen müssen.

Es ist eine Sache, wenn sich ein Intellektueller am Schreibtisch utopische Forderungen einfallen lässt, diese zu Papier bringt – und europaweit zur Abstimmung stellt –, aber eine vollkommen andere, wenn besagter Schreibtischphilosoph, der gewiss nicht zu den Ärmsten dieser Republik zählt und zudem gern mit seiner Familiengeschichte kokettiert, außer Acht lässt, dass die vollmundig geforderten Dinge längst in juristischer Form Eingang in die alltägliche Rechtsprechung gefunden haben.

Doch wer ist dieses ominöse Wesen „Wir“, von dem Ferdinand von Schirach spricht? Es ist ein Mensch, ein europäischer dazu, der einer direkten Demokratie nicht fähig ist, weil er bei einer Abstimmung kurz nach einem Sexualmord an einem Kind die Todesstrafe fordern würden. Geschenkt, dass auch der Autor dunkle Flecken auf der Seele haben dürfte...

Wer könnte es denn richten? Politiker, genauer ausgedrückt, die repräsentative Demokratie? Wie gut das funktioniert, sieht der aufmerksame Beobachter des politischen Zeitgeists aktuell, denn die Repräsentanten des Bürgerwillens sind gerade dabei, die Demokratie auszuhebeln. Keine Gute Idee also.

„Wir“ ist immer ein schlechter Katalysator für ohne Frage anstehende Veränderungen. Noch allzu gut hat man das schrille – und typisch für deutsche Großmannssucht – „Wir schaffen das“, der Kanzlerin in den Ohren. Leider hat sich dieses „Wir“ als vom Bürger, vom Steuern zahlenden Bürger zu begleichende Rechnung erwiesen. Von den zahllosen physischen Kollateralschäden hauptsächlich weiblicher Opfer ganz zu schweigen.

„Wir fordern“, „Wir brauchen“ und ähnliche, stets von den Vielen abverlangende Kostenstellen, sind Plattitüden der Wenigen, die immer besagte Ausgaben auf andere, auf die Allgemeinheit abwälzen, um sich selber im Licht des scheinbar besseren Menschen darzustellen.

Mein Vorschlag an alle, die der Ideologie des „Wir“ismus anhängen: Schnappt euch ein paar gelangweilte Milliardäre, die ohnehin davon träumen, die Welt nach ihren Vorstellungen zu transformieren, dazu einige eloquente und „Schreibstil“ sichere Salonlöwen und dann macht euch gemeinsam daran, quasi als Pilotprojekt, die Slums vom Mumbai oder ähnlich menschenunwürdige Flecken so herzurichten, dass Leben, das diesen Namen auch verdient, dort möglich ist.

Ansonsten solltet ihr nicht mehr von „Wir“ sprechen, wenn ihr darunter doch immer nur die Anderen versteht.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 7. Juni 2021