Buchkritik -- Jon Fosse -- Ein Leuchten

Umschlagfoto, Buchkritik, Jon Fosse, Ein Leuchten, InKulturA Ein Mann setzt sich ins Auto und fährt an allen menschlichen Behausungen vorbei, bis er nur noch verlassene und verfallene Bauernhäuser und Hütten passiert. Schließlich biegt er in einen Waldweg ein und fährt diesen entlang, bis das Auto zuletzt in der Unwegsamkeit stecken bleibt. Die Nacht bricht herein und es hat angefangen zu schneien. Der Mann beschließt, sein Auto zu verlassen und allein in den dunklen Wald zu gehen, um jemanden zu finden, der ihm hilft.

Was wie eine Horrorgeschichte beginnt, ist stattdessen der Anfang einer kurzen Novelle des norwegischen Schriftstellers Jon Fosse, des Nobelpreisträgers für Literatur im Jahr 2023, und einer Fiktion, die auf ergreifende Weise die Grenze zwischen der materiellen und der spirituellen Welt auflöst.

Nachdem der, wie wir lesen, selbstverlorene, an sich zweifelnde Protagonist eine Weile durch den dunklen und verschneiten Wald gelaufen ist, gerät die Realität ins Wanken. Er nimmt wahr, dass etwas auf ihn zukommt, menschlich geformt, aber nicht wirklich menschlich, eine Präsenz, die „in ihrer Weiße leuchtend ist und von innen heraus scheint“. Es berührt ihn, wärmt ihn, spricht zu ihm. Jan Fosse lässt den nach Hilfe suchenden sprechen: „Ich höre eine Stimme sagen: Ich bin hier, ich bin immer hier, ich bin immer hier – was mich erschreckt, denn dieses Mal gab es keinen Zweifel daran, dass ich eine Stimme gehört hatte, und es war eine dünne und schwache Stimme, und doch ist es, als hätte die Stimme eine Art tiefe, warme Fülle, ja, es war fast, ja, als ob da etwas wäre, was man Liebe in der Stimme nennen könnte.“

Die große Kunst von Fosses Fiktion besteht darin, dass sie jede religiöse Interpretation entschieden ablehnt. Christliche Eschatologie, Paradiesvorstellungen und andere Glaubensvorstellungen, die den Übergang in eine wie auch immer gestaltete und imaginierte Welt danach, nach dem Leben, beschreiben, fallen in sich zusammen, denn nach dem Betreten der Schwelle zwischen dem Hier und Jetzt, dem Augenblick des wahrgenommenen eigenen Übertritts ins Immaterielle, lösen sich alle das Jenseits betreffende Vorstellungen auf und eine neue, seltsame und unbekannte Wirklichkeit taucht auf einmal auf.

Nachdem die Präsenz ihn verlassen hat, trifft der Mann im Wald auf seine eigenen Eltern. Obwohl er immer auf sie zugeht, kommen sie ihm nie näher. Als seine Eltern ihn verlassen, sieht er einen Mann im Anzug mit bloßen Füßen im Schnee. Der Mann führt ihn zu einem großen Aufblühen der strahlend weißen Präsenz, die er zuvor gesehen hatte. Obwohl die Novelle mit extrem kurzen Sätzen und in der Vergangenheitsform beginnt, geht sie im Laufe der Erzählung in die Gegenwartsform über und das Ende erscheint im Glanz eines extrem langen Satzes, der der Prosa selbst eine Art prächtigen Schimmer verleiht.

„Ein Leuchten“ kann auf viele Arten gelesen werden: als erratischer Monolog, als Fabel, als christlich angehauchte Allegorie; als ein Albtraum, der am nächsten Morgen sorgfältig erzählt wird, wobei der Schrecken des Erlebnisses immer noch unter den Worten pulsiert, wenn auch durch das kleine tägliche Wunder des Tageslichts etwas gemildert erscheint.

Das tief Bewegende von Fosses Fiktion liegt darin, dass sie jede stringente Interpretation vehement ablehnt. Sie ist keine allein stehende Melodie, sondern wird zu einem Akkord, in dem alle möglichen Interpretationen gleichzeitig erklingen. Diese Weigerung, dem Einsamen, dem Schlichten, dem Einfachen nachzugeben und darauf zu beharren, dass komplizierte Dinge wie das Verhältnis zwischen Tod und einer möglichen Welt danach ihre immensen Geheimnisse und Widersprüche behalten, scheint in unserer zunehmend desillusionierten Welt eine stille, kraftvolle und spirituelle Hoffnung zu sein.

Die Leserinnen und Leser werden angesichts dessen ihre jeweils eigenen Interpretationen haben und das macht dieses kurze Stück Literatur zu einem noch lange nach der Lektüre wirkenden Text.




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Veröffentlicht am 5. Februar 2024