Das Wort Heimat ist dem politischen Mainstream seit vielen Jahren suspekt. In dessen Interpretation steht es für Rückwärtsgewandheit, ewig Gestriges, Konservativismus und Schlimmeres. Desavouiert wegen des ideologischen Missbrauchs durch den Nationalsozialismus, macht sich derjenige verdächtig, der diesem Begriff benutzt, um, im Gegensatz zur politisch korrekten Vokabel Globalisierung, darauf zu verweisen, dass das Individuum sich sehr wohl seiner Wurzeln im räumlich-zeitlichen Gefüge bewusst ist und diese von essentieller Bedeutung für seine Entwicklung und seinen Bezug zur Welt sind. So bedeutet der Verlust der Heimat dann auch einen gravierenden Bruch im Leben eines Menschen, der vielleicht für eine gewisse Zeit verdrängt werden kann und muss, irgendwann und meist in Zeiten persönlicher Krise jedoch mit Wucht zurück ins Bewusstsein drängt.
Gerhard Streminger hat solch einen Verlust und dessen späte Resonanz im Leben von Emily Macleod in seinem bewegenden Roman "Die Fremde" thematisiert. Nach einer harmonischen Kindheit in den schottischen Highlands, in deren Verlauf die junge Emily starke emotionale Bindungen sowohl zu ihrer Familie, zu ihren Nachbarn und, sie besonders prägend, zur Natur entwickelt, wird diese auf dramatische Weise zerstört. Ein Staudamm-Projekt zwingt die Bewohner das Dorf zu verlassen und sich anderswo, verstreut über den Globus, neu anzusiedeln. Eingebettet in zehn Briefe an ihre Enkelin Enya lässt der Autor das Leben von Emily Revue passieren und nimmt den Leser mit auf eine ergreifende Lebensgeschichte, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts im englischsprachigen Teil Europas so selten nicht gewesen sein dürfte.
Der Rückblick eines älteren Menschen auf seine Kindheit läuft nicht selten Gefahr, die Vergangenheit zu verklären und Negatives zu verdrängen oder positiv umzudeuten. Gerhard Streminger dagegen gelingt bei der Beschreibung von Emilys Jugend die Gradwanderung zwischen Idealisierung und Realität. Natürlich waren die Zeiten mitunter hart, doch eingebettet in eine funktionierende Familien- und Dorfgemeinschaft, erlebt sie dreizehn Jahre voller Harmonie und - man wagt es kaum diesen, ebenfalls vom Zeitgeist missbrauchten Begriff zu benutzen - Glück. Der Leser, der angesichts dieser Kindheit nicht ab und zu einen Seufzer hinsichtlich des ihr immanenten Zaubers tätigt, muss schon ein harter Knochen sein.
Hart und von robuster Natur musste jedenfalls Emily Macleod sein, als der Bruch in ihrem Leben stattfand. Herausgerissen aus der gewohnten und geliebten Umgebung, war sie gezwungen, sich in einem Land, den USA, vollkommen neu zu orientieren. Dabei stieß sie schnell an kulturelle und menschliche Grenzen, denn der Lebensstil in der Neuen Welt war dem, den sie kannte, diametral entgegengesetzt. Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit, Terminhetze und das Nebeneinander anstelle des Miteinander in ihrer Familie machen Emily mehr und mehr zu schaffen und entfremdet sie sukzessive von Ehemann und Kindern und sie beschließt ihrer alten und eigentlichen Heimat, einen letzten Besuch abzustatten.
"Die Fremde" ist für den Leser, der die Schwingungen wahrzunehmen versteht, die das Wort Heimat auslöst, ein Roman, der die Rückschau auf die eigene Vergangenheit geradezu forciert. Heimat war und ist jenseits der ihm fälschlicherweise zugeordneten Konnotation ein Begriff, der ein Individuum definiert und der nicht zuletzt darüber entscheidet, welcher Mensch wir geworden sind. Der Verlust der Heimat oder schlimmstenfalls das niemals Kennen einer solchen dürfte einer der Faktoren sein, der den sich so modern wähnenden Menschen singularisiert hat.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 4. Oktober 2016