```

Buchkritik -- Benjamin Wood -- Der Krabbenfischer

Umschlagfoto, Buchkritik, Benjamin Wood, Der Krabbenfischer, InKulturA Wir befinden uns in den 1960er Jahren: Thomas Flett, ein junger Krabbenfischer, beschreitet den altertümlichen Pfad seines Handwerks, indem er sich täglich mit Pferdefuhrwerk und Netz am Ufer von Longferry einfindet. Er nimmt still hin, was Flut und Ebbe ihm bescheren, doch er ahnt schon, dass diese Ernte von Krabben nicht von Dauer sein wird. Das Meer, einst Quelle des Überflusses, spuckt zunehmend giftige Chemikalien und ekelerregenden Unrat an Land, ein leiser Vorbote des Untergangs dieses Berufs. Obwohl Thomas kaum älter als zwanzig ist, lastet das ganze Gewicht einer vergänglichen Existenz auf seinen breiten Schultern; er fühlt sich verbraucht, als trüge er das Alter und die Sorgen mehrerer Generationen in sich.

Früher waren viele seiner Zunft an diesen windumtosten Küsten heimisch; heute aber ist Thomas der letzte seiner Art in Longferry, der noch auf die Weise seines Großvaters fischt. Während die anderen Krabbenfischer auf motorisierte Vehikel umgestiegen sind, spannt der junge Mann weiter sein Pferd vor den Karren. Diese Beharrlichkeit wirkt einerseits rührend, doch sie birgt auch eine subtile Tragik: in seinem beharrlichen Festhalten an altem Brauch spiegelt sich die Angst vor dem eigenen Aussterben.

Thomas’ Biografie ist von Entbehrung und Isolation geprägt. Er hat seinen Vater nie kennengelernt; seine Mutter, selbst erst fünfzehn Jahre alt bei seiner Geburt, pendelt zwischen Fürsorge und Überforderung. Sein inzwischen verstorbener Großvater, ein Mann der stillen Entschlossenheit, wurde zum Ersatzvater und vermittelte ihm die Liebe zum Meer. Und dennoch reizt Thomas die Sehnsucht nach einem Leben jenseits von Netz und Karren. Sein Herz schlägt für Joan Wyeth, die Schwester seines besten Freundes, und sein Geist schwelgt im Traum, Musiker zu werden. Er bringt sich selber das Gitarrenspiel bei;Töne und Melodien als Ausdruck seiner inneren Freiheit.

Da taucht Edgar Acheson auf, ein amerikanischer Fremder, der sich als Hollywood-Regisseur ausgibt und dem jungen Fischer Geld anbietet, um ihm bei der Suche nach spektakulären Küstenlandschaften für seinen nächsten Film zu helfen. Thomas, erst skeptisch, dann begeistert von Edgars überschäumender Euphorie, führt ihn bei Nebel und Sturmböen zu den abgelegenen Strandabschnitten, die Edgar als ideale Kulisse preist. Auf dieser abenteuerlichen Exkursion, untermalt vom archaischen Klang der Brandung, erlebt Thomas einen seltsamen Moment zwischen Leben und Tod, ein Augenblick, der ihm wie ein zauberhaftes Versprechen einer anderen Wirklichkeit erscheint.

Doch kaum keimen in ihm Hoffnungen auf Veränderung und Neuanfang, da verdunkeln sich die Umstände. Edgars Mutter erscheint und es stellt sich heraus, dass hinter dessen Kinofassade ein innerlich zerrissener Mensch zum Vorschein kommt. Die Wahrheit hinter der Reise an die Küste entfaltet sich abrupt als ein Netz aus Täuschung und Wahn. Was als einzigartige Chance schien, entpuppt sich als Produkt eines Menschen, der die Grenze zwischen Realität und Phantasie überschritten hat und Thomas muss erkennen, dass zwischen seiner Sehnsucht nach Veränderung immer noch die unauflösbaren Fesseln seiner Herkunft stehen.

Benjamin Woods’ Roman spielt innerhalb von nur zwei Tagen, doch er nimmt sich Zeit, große Motive zu verweben: die Suche nach Identität, die Kraft des Ehrgeizes und die Limitationen, die gesellschaftliche Schichten auferlegen. Seine Sprache oszilliert zwischen melancholischer Poetik und knapper Präzision: Jedes Bild, vom gleißenden Nebel bis zum scharfen Aufbäumen der Wellen, wird mit einem feinen Federstrich eingefangen, sodass der Leser nicht nur Zuschauer, sondern Teil dieser nebligen Inszenierung wird.

Die Meisterschaft des Romans liegt in seiner stilistischen Dichte: Die Rundumsicht auf das karge Kleinstadtleben lässt nicht nur die Besonderheiten von Longferry aufblitzen, sondern evoziert zugleich eine universelle Sehnsucht nach Weite und Freiheit. Woods’ Tonfall ist einfühlsam und zugleich unbestechlich; seine Reflexionen über soziale Enge und individuelle Träume lassen beim Lesen eine verstohlene Bewegung des Herzens entstehen. Am Ende bleibt die ergreifende Erkenntnis, dass die Fesseln, die wir oft in unserer Herkunft sehen, manchmal nichts anderes sind als Ausgangspunkte für den Sprung in eine ungewisse, aber selbstgewählte Zukunft.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 19. Juli 2024