Buchkritik -- Esther Kinsky -- Am Fluss

Umschlagfoto, Esther Kinsky, Am Fluss, InKulturA Was zeichnet gute und anspruchsvolle Literatur aus? Sind es eindringliche Charakterstudien, sind es ausführlich-emotionale Landschaftsbeschreibungen oder sind es Milieu- und Sozialerzählungen, die die Realität mit den Augen des Außenstehenden beschreiben?

Es ist im Grunde vollkommen unerheblich, welches Sujet ein Roman oder eine Erzählung hat. Wichtig und bedeutsam für die Qualität des Geschriebenen ist die Wirkung, die der Text beim Leser hinterlässt.

Eine Schriftstellerin, die es versteht, mit ihrer Sprache zu verzaubern und in den Bann zu ziehen, ist Esther Kinsky. In ihrem neuen Roman "Am Fluss" beschreibt sie ihre Annäherungsversuche an die gelebte Realität, die, mal unpersönlich, mal fluchtartig, immer auch eine Distanzierung zwischen Autorin und Umwelt bedeutet. Der River Lea, der in der Nähe von Luton entspringt und im weiteren Verlauf zunächst ostwärts fließt bis er bei Hertford seinen Lauf ändert und weiter südlich in Richtung London zieht, wo er schließlich in die Themse mündet, ist der Ausgangspunkt für die Meditationen der Autorin über die eigene Geschichte und die der Flusslandschaft.

Kinsky beschreibt, ähnlich den Bewegungen des einmal fließenden, einmal stockenden Gewässers, die mögliche Geschichte alltäglicher Zufallsfunde. Knöpfe, alte Zeitungen, aber auch, immer aus angemessener Distanz beschrieben, Menschen, erhalten durch die Autorin ein fiktives Schicksal, das, gedankt sei es der sprachlichen Virtuosität Kinskys, für den Leser immer eine überraschende Wende bereithält.

Es ist die niemals mit Gewalt sezierende Aufmerksamkeit der Autorin, die es vermag, diesem Roman, in dem, seien wir ehrlich, eigentlich nichts geschieht, Tiefe und Ausdruckskraft zu verleihen. Die Dinge, die für die meisten Menschen keinen Blick wert zu seien scheinen, sind die zentralen Punkte, um die herum die Autorin mit feinfühliger Diktion ihre Reflexionen beschreibt und die sie rückblickend sowohl an den Ganges, an den Rhein, nach Israel, Ungarn und Kanada führt, um immer wieder am Lauf des River Lea zu enden.

"Am Fluss" ist ein ruhiges, beinahe meditatives Buch über die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt. Fast erhält der Leser den Eindruck, als wenn Kinsky es geradezu darauf anlegt, den näheren Kontakt zu ihrer sozialen Umwelt zu vermeiden, um anstelle dessen mithilfe von Polaroidfotos eine mögliche Geschichte der Dinge zu evozieren, um sich in fiktiven Ereignissen verlieren zu können.

Gerade durch das Fotografieren, ein Tun, das es bewußt darauf anlegt, zwischen dem Individuum und seiner Umwelt eine Distanz zu schaffen, erhält Kinsky jedoch den Zugang zu ihrer eigenen Geschichtlichkeit, deren Verlauf immer wieder ins Bewußtsein der Autorin gelangt, die um ihre eigene Fremdheit weiß und die sich immer bewusst ist, dass sie nach ihrer Kindheit niemals mehr richtig beheimatet war.

"Am Fluss" von Esther Kinsky gleicht einer Melodie, die, unterschwellig und ohne Aufdringlichkeit, beim Leser eine eigentümliche Harmonie zwischen sich und der Autorin hervorruft und aus der Lektüre dieses Buches, lässt man sich denn auf seine passive Eigenwilligkeit ein, einen wirklichen Glücksfall der Literatur macht.




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Veröffentlicht am 19. Oktober 2014